Was ist das Turnersyndrom? Durch Fehlen oder Veränderungen im Aufbau eines X-Chromosoms kommt es zu einem Syndrom mit folgenden Veränderungen:
- Kleinwuchs (Ursache: SHOX-Gen-Haploinsuffizienz)
- äußere Auffälligkeiten wie Flügelfell, Naevi (Muttermale), Schildthorax, Cubitus valgus und andere Veränderungen
- Durch frühembryonale Degeneration des Eibläschenapparats der Eierstöcke entwickeln sich so genannte Stranggonaden, funktionierende Eierstöcke sind somit nicht vorhanden. Die Pubertät bleibt aus, das Schwangerwerden ist auf normalem Wege nicht möglich.
- Funktionsstörungen im Herz-Kreislauf-System, im Zuckerstoffwechsel, der Schilddrüsenfunktion u. a.
Untersuchungen: Durch eine Analyse der Grobstruktur der Erbanlagen kann die Diagnose gestellt werden. Diese nennt man Chromosomenanalyse und wird aus Blutzellen erstellt. Alternativ kann eine Chromosomenanalyse auch aus Hautzellen (Fibroblasten) erfolgen. Es sind auch folgende Fragen zu klären:
- Liegt ein Mosaik oder ein nur teilweiser Verlust eines X-Chromosoms vor?
- Gibt es Anteile des (männlichen) Y-Chromosomenanteils?
- Gibt es eine Restfunktion der Eierstöcke? Dies kann durch eine Blutuntersuchung zur Hormon-Überprüfung näher untersucht werden.
- Liegen zusätzliche Erkrankungen vor (Herzultraschall, Nierenultraschall, Hörtest etc.)?
Mosaik: Bei Mosaiken (nicht jede Zelle ist von der genetischen Veränderung betroffen) und einigen strukturellen Veränderungen des X-Chromosoms sind häufig mildere Verlaufsformen zu erwarten, oft auch eine erhaltene Eierstockfunktion. Im letzteren Fall ist jedoch sehr häufig mit einem vorzeitigen Eintreten der Wechseljahre zu rechnen. Auch wenn Material des (männlichen) Y-Chromosoms vorhanden ist, ist die Patientin mit Turnersyndrom immer weiblich. In diesem Fall besteht jedoch das Risiko, dass aus den Stranggonaden gut- oder bösartige Tumoren erwachsen, erhöht, so dass eine operative Entfernung der Stranggonaden zu empfehlen ist.
Wachstum: Das Wachstum ist genetisch unabhängig von der Eierstockfunktion. Zur Erhöhung der Endgröße ist eine Wachstumshormongabe häufig sinnvoll. Ob diese Therapie jedoch deutlichen Größenzugewinn zeigt, ist vom Alter beim Behandlungsbeginn, von der Behandlungsdauer und von der Wachstumshormondosis abhängig; letztlich ist der Effekt jedoch nicht vorhersehbar. Zusätzlich kann Oxandrolon gegeben werden, ein wachstumsförderndes Steroid. Hier muss jedoch die Leberfunktion im Auge behalten werden. Sinn der Wachstumshormonbehandlung ist die Normalisierung der Körpergröße als Kind, damit die Umgebung das Alter des Kindes richtig einschätzen kann und eine sogenannte Infantilisierung nicht stattfindet. Darüber hinaus ist das Ziel der Behandlung, dass im Pubertätsalter eine akzeptable Körpergröße angenähert wird. Im Pubertätsalter soll nämlich die Pubertät mit Östrogenen (weiblichen Sexualhormonen) eingeleitet werden. Schließlich ist Zweck der Wachstumshormonbehandlung, dass im Erwachsenenalter eine normale Endgröße erreicht wird. Jedoch ist Studien zufolge die Lebensqualität beim Turnersyndrom nicht abhängig von der Körperhöhe.
Pubertät und ihre Einleitung: Bei Mosaiken oder nur teilweisem Verlust eines X-Chromosoms kann die Pubertät spontan eintreten.
Voraussetzung hierfür ist eine erhaltene Eierstockfunktion. Sogar bei vorhandenen Y-chromosomalen Anteilen im Mosaik ist eine spontane (weibliche) Pubertät möglich. Ob eine Eierstockfunktion vorhanden ist, kann durch die Bestimmung der Hormone FSH, LH und Östradiol sowie das Anti-Müller-Hormon näher eingeschätzt werde Beim Fehlen der Ovarfunktion ist eine Pubertätseinleitung mit Östogenen angezeigt. Die körperliche Pubertätsentwicklung ist für die Persönlichkeitsentwicklung von großer Bedeutung. Strittig war in der Vergangenheit, wann die Pubertätsinduktion beginnen soll. Die Östrogene beenden durch den Schluss der Knochenfugen (Epiphysenfugenschluss) das Längenwachstum und wären somit ein „Gegenspieler“ zum Wachstumshormon. Inzwischen scheint sich die Fachwelt einig zu sein, dass ein Start der Be-handlung mit Östrogenen im Alter von 12 Jahren erfolgen soll. Es wird Östrogen ohne zusätzliches Gelbkörperhormon (Gestagen) gegeben, um das Wachstum von Brust und Gebärmutter durch das Gestagen nicht zu verzögern. Etwa ab dem 3. Jahr wird zusätzlich ein Gelbkörperhormon gegeben um eine regelmäßige Periode sicherzustellen.
Fruchtbarkeit beim Turnersyndrom: Frauen mit Turnersyndrom haben eine Gebärmutter, können somit prinzipiell Kinder austragen. Bei Mosaiken oder nur teilweisem Verlust des X-Chromosoms sind oft funktionierende Eierstöcke vorhanden. Wenn dies nicht der Fall ist, sind funktionslose Stranggonaden zu sehen und damit ist eine
Schwangerschaft auf normalem Wege nicht möglich.
Bei vorhandener Eierstockfunktion ist somit also eine Schwangerschaft prinzipiell möglich. Somit würde bei fehlendem Kinderwunsch auch
Verhütungsbedarf bestehen. Zum Erreichen einer Schwangerschaft ist jedoch häufig eine Eizellstimulation mit Hormonen und anschließender Eisprungauslösung notwendig. Das Hauptproblem ist, das vorzeitige Wechseljahre wahrscheinlich sind und daher die Familienplanung möglichst nicht zu weit hinausgezögert werden sollte. Bei der Wahl der passenden Verhütungsmethode ist zu beachten, das bei Patientinnen mit Turnersyndrom häufig Herzkreislauf-Erkrankungen und Veränderungen des Zucker- und Fettstoffwechsels vorliegen. Pillen, die Östrogen und Gelbkörperhormon enthalten sowie der Vaginalring und das Verhütungspflaster haben ein gewisses Risiko, Thrombosen oder Embolien hervorzurufen (Gefäßverschlüsse), wenn zusätzliche Risikofaktoren auftreten. Daher sollte eine internistische Abklärung im Vorfeld die Anwendung dieser Verhütungsmethoden folgen. Bei Depot-Gestagenen ist zu beachten, dass bei längerfristiger Anwendung ein Osteoporose-Risiko besteht (Knochenschwund), welches beim Turnersyndrom an sich schon häufiger vorkommt. Darüber hinaus ist nach dem Absetzen damit zu rechnen, dass oft bis zu einem Jahr lang keine Periode auftritt; dies ist besonders dann ungünstig, wenn die Familienplanung schnell umgesetzt werden soll. Bei der Anwendung von Spiralen, Portiokappe oder Femidom („Frauenkondom“) ist zu beachten, dass die anatomischen Verhältnisse, z.B. kleiner Uterus etc. berücksichtigt werden müssen.
Wie kann die Fruchtbarkeit - bei vorhandener Eierstockfunktion - erhalten werden? Der Sinn ist die Erhaltung der Fruchtbarkeit für die Zeit nach den (sehr oft vorzeitigen) Wechseljahren bzw. nach der Entfernung der Eierstöcke, wenn Y-chromosomales Material in der Chromosomenanalyse erscheint (siehe oben). Die Optionen wären
- Wenn ein Lebenspartner vorhanden ist: IVF mit Kryokonservierung / Vitrifizierung (Einfrieren) der befruchteten Eizellen. Dies ist ein etabliertes Verfahren bei der künstlichen Befruchtung.
- Wenn noch kein Partner vorhanden ist: Einfrieren unbefruchteter Eizellen nach Hormonstimulation oder Einfrieren von Eierstockgewebe, welches mittels einer Bauchspiegelung gewonnen werden müsste. Hier wäre eine Hormonstimulation im Vorfeld nicht notwendig.
Fruchtbarkeit bei fehlender Eierstockfunktion: Eine Schwangerschaft ist grundsätzlich möglich, da eine Gebärmutter vorhanden ist. Diese sollte jedoch im Rahmen der Pubertätsinduktion mit Östrogenen eine bestimmte Mindestgröße erreicht haben. Da die Eierstöcke nicht funktionieren, ist die einzige Behandlungsoption der Embryotransfer nach künstlicher Befruchtung von
Spendereizellen. Hierbei wird die Gebärmutterschleimhaut der Empfängerin (der Turnersyndrom-Patientin) zuvor mit hochdosierten Östrogentabletten aufgebaut. Dieses Verfahren ist in Deutschland derzeit nach dem Embryonenschutzgesetz nicht möglich. Als Alternative bliebe dann eine
Adoption.
Welche Risiken hat eine Schwangerschaft beim Turnersyndrom? Das Risiko für Chromosomenveränderungen für die Nach-kommen (bei funktionierenden Eierstöcken) ist unklar. Die Fehlgeburtsrate ist wohl nicht erhöht. Aufgrund der Körpergröße (enges Becken) ist häufig eine Kaiserschnittentbindung notwendig. Es besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Schwangerschaftszuckerkrankheit (Gestationsdiabetes) und Schwangerschaftshochdruck. Eventuell können hohe Risiken in Bezug auf das Herzkreislaufsystem in einer Schwangerschaft vorliegen. Daher sollte vor einer geplanten Schwangerschaft unbedingt eine ausführliche internistische Abklärung erfolgen, z.B. mit Herzechographie, MRT der Hauptschlagader (Aorta). Sollte die Schwangerschaft durch Eizellspende eingetreten sein so ist zu beachten, das ein fünffach erhöhtes Präeklampsie-Risiko besteht (früher: Schwangerschaftsvergiftung).
Wie kann man Folgeerkrankungen verhindern? Es sollten regelmäßige Untersuchungen auf
innere Erkrankungen erfolgen. Häufig finden sich beim Turnersyndrom Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Nieren, der Leber, außerdem Zöliakie, Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse, Diabetes, Fett- und Knochenstoffwechselerkrankungen etc. Zudem ist eine
Hormonersatztherapie dringend angezeigt: Zur Verhinderung von Osteoporose (Knochenschwund) und trockenen Schleimhäuten sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen sollten Östrogene eingenommen werden und zur Verhinderung östrogenbedingter Blutungsstörungen oder Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut auch ein Gelbkörperhormon. Diese Medikation sollte mindestens bis zum Alter der natürlichen Wechseljahre (ca. 45 Lebensjahr) eingenommen werden. Es gibt die Möglichkeit, Tabletten oder Hormonpflaster anzuwenden. Sinnvoll ist auch die Einnahme von Vitamin D und Calcium - diese dürfen allerdings nicht alternativ zu den Hormonen verstanden werden.